Festvortrag für Udo Baer zur Feier seines 70ten Geburtstags

von Bernadette Conrad

Lieber Udo, liebe Gabriele, - liebe Familie und Freundinnen und Freunde, liebe „Gemeinschaft der Kreativen“ hier im Raum,

mir ist die wunderbare Aufgabe angetragen worden, das Geburtstagskind zu ehren und zu würdigen – ich habe diese Aufgabe mit Freuden angenommen. Und doch stehe ich hier nun um Einiges zitternder als sonst, - ich stehe öfter mal am Mikro, und trage etwas vor, - aber das hat dann mit meinem Beruf zu tun, meinen Büchern, meinem Fachgebiet Literatur.

Und hier stehe ich nun mit der Frage, die sich einige von Ihnen (und Euch) sicher auch stellen: Wieso ich? Wo doch vermutlich fast alle hier im Raum Udo Baer besser, länger, aus viel mehr Zusammenhängen kennen als ich?

So leicht und freudig, wie ich diese Aufgabe übernommen habe – WEIL ich gern etwas Neues probiere, WEIL ich diese große spontane Sympathie für Dich, liebe Gabriele und Dich, lieber Udo empfand, - so groß tat sich nach meiner spontanen Zusage die bange Frage auf, wie ich diesen Platz füllen würde, den ich durch das Geschenk von Gabrieles Vorschussvertrauen eingenommen habe?

Ich erinnerte mich zurück an etwas, das ich viele Jahre lang gemacht habe, - wenn ich Schriftsteller und Schriftstellerinnen für DIE ZEIT portraitiert habe; wenn ich herzklopfend in London das Reihenhäuschen von Doris Lessing gesucht und zwischen ihren Büchern und Katzen mit ihr gesprochen habe; in Manhattan die Wolkenkratzerwohnung von Jonathan Franzen, oder wenn ich mit Aharon Appelfeld durch das orthodoxe Jerusalem spaziert bin.

Ich habe in einem oder mehreren langen Gesprächen und im genauen Lesen der Bücher versucht, in sehr kurzer Zeit Wesentliches zu erfassen, - den frischen Blick der Fremden zu werfen auf jemanden, den oder die ich vermutlich danach nie wieder sehen werde.

Das ist heute nicht der Fall, - eine eindeutige Verbesserung meiner Lage! Dich, lieber Udo, hoffe ich, noch oft wiederzusehen ….

Was ich sagen will:

Ich habe in meiner Arbeit gelernt, diesen frischen Blick zu schätzen – das genaue Hinschauen – und das Achten auf die eigene Resonanz. Der frische Blick erlaubt mir UND ZWINGT mich, mich selbst ins Spiel zu bringen, und so möchte ich nun versuchen, mit diesem frischen Blick auf Dich, lieber Udo, und auf Dein Werk zu schauen.

Als ich an dem Aprilabend unseres Kennenlernens in dem Kreuzberger Restaurant, in dem wir drei uns verabredet hatten, aus dem Fenster schaute – ich war ausnahmsweise früher da als die anderen – sah ich einen Mann, der größer – und eine Frau, die kleiner war als erwartet – und beide viel näher miteinander als ich es von langjährigen Paaren üblicherweise erwarte. Wir lernten uns kennen, wir fragten uns gegenseitig nach unserer Arbeit, unseren Kindern, unseren Büchern, unseren Plänen, - und als Ihr nach ein paar Stunden als Erste das Restaurant verließt, fiel mir das wieder auf, wie nah aneinander, wie eng verbunden ich euch draußen durch den Regen fortspazieren sah, - und dann fiel mir noch auf, dass ich mich kein bisschen ausgeschlossen oder seltsam gefühlt hatte, obwohl ich allein mit euch beiden am Tisch saß; es fiel mir auf, dass es erstaunlich warm und locker gewesen war, viel wärmer und entspannter, als es bei ersten Begegnungen meist ist, - und mir fiel auf, das euch beiden etwas fehlte, das bedeutende Menschen leider auch oft mit sich tragen: Eitelkeit. Die Art, einem anderen unterschieben zu müssen, wie wichtig man selbst ist, - davon hatte ich nichts verspürt.

Ich hatte Euch gefragt nach Eurem gemeinsamen Werk, der kreativen Leibtherapie, wir kamen vom Tanzen zu Flüchtlingen, zu Demenz, zu Kindern, zu Kriegserfahrung – zu Eurer Arbeit mit den verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen, es überstieg mich ganz bald, aber:

Was sich mir von Dir, lieber Udo, an diesem ersten Abend vermittelte – und in weiteren Begegnungen bestätigte – das war eine besondere Art von stiller Freude, eine für mich sehr spürbare Freude daran, das alles zu machen und gemacht zu haben, Dinge anzustoßen, zu erdenken und zu schreiben, - ich nenne es hier mal: „Gründerfreude“, - die ganz persönliche Freude an diesem ungeheuer tätigen Leben.

Über diese „Gründerfreude“ habe ich dann länger nachgedacht: Sie kommt zu mir rüber als eine ruhige Freude, - keine lärmende, die in die Welt ruft: Leute, ich bin so bedeutsam …  Nein, Deine Energie geht nicht in das „ich bin so wichtig und so großartig“ – sondern ins Weitergehen. Wo ist die nächste Gelegenheit, kreativ mit Krisen umzugehen? Für wen könnten wir es noch nutzbar machen, dies Erfahrungswissen vom Würde schaffenden, kreativen Leben?

Mir scheint, Du bist einer, der im Gehen auch steht. Der nicht nach vorne hetzt und sich auffressen lässt vom inneren Antrieb Aktivismus, - sondern den das innere Credo des aufrechten Ganges, das Würde-Ich vielleicht, auch mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehen lässt.

Und spätestens jetzt muss Folgendes gesagt werden:

In Deinen und Euren Büchern, in denen ich dann viel las, fand ich das wieder, was mir am Abend im Restaurant als Erstes ins Auge gesprungen war: diese unbedingte Verbindung und Verbundenheit zwischen Euch beiden, - und auch hierzu kam mir ein Wort. Von Euch beiden geht es etwas aus, - und setzt sich in den Büchern fort - das man nicht „Meinhaftigkeit“, sondern Wir-haftigkeit nennen könnte.

Das kann man vermutlich auch „gelebte Würdigung“ nennen, - Ihr würdigt einander auf viel mehr verschiedenen Ebenen, als man das von außen sehen kann – aber man sieht es eben AUCH von außen, - und man liest es innen, in Eurem gemeinsamen Werk …

Es ist ein einladendes „wir“, das sich ganz integrierend in die verschiedensten größeren Kreise öffnet – kein behauptetes Wir, sondern ein erarbeitetes – und ein arbeitendes! Es beeindruckt mich, wie Ihr Euch aufeinander bezieht, einander ergänzt; wie keine Machtebene dies Bezogensein zu stören scheint, wie Ihr Freude aneinander habt, - und wie fest und zugleich beweglich diese intime Gemeinschaft nach außen wirkt.

Da kann man, wie ich finde, nur staunen, und sagen: Auch dazu meinen herzlichsten Glückwunsch…

Und als ich mich nach diesem Abend weiter fragte, wie es kam, dass für mich gar nicht das Gefühl der FREMDheit aufgekommen war, sondern eher das von Verbundenheit in bestimmten Lebensbewegungen, in Sinnfragen, - da fiel mir auf, dass neben vielen anderen auch zwei Dinge mit am Tisch gesessen hatten, die uns ganz sicher stark verbinden:

Wir haben uns kennengelernt als Berlin-Eroberer der späten Stunde – so nenn´ ich das mal:

Alle drei sind wir erst vor wenigen Jahren nach Berlin gegangen, - ich war über 50, Ihr über 60, - das ist untypisch, typischerweise geht man jung in diese WILDE Stadt, verlässt sie entweder nie wieder, oder aber verlässt sie, wenn man es im Alter, oder mit der Familie, ruhiger will als es in so einer Stadt nun mal zugeht.

Berlin ist ein auf ganz spezielle Art „wilder“ Ort, nicht nur, dass Anarchie, Aufbruch, Revolution hier große Tradition haben, - Berlin ist auch zu groß, als dass sich hier die Wunde der Verwüstungen des 20. Jahrhunderts schnell schließen ließe … zu groß um vom wildwütigen Konsumkapitalismus so überrollt zu werden wie das vielen kleineren Orten passiert … aber eben auch kein Ort, der es einem leicht macht, sich zur Ruhe zu setzen.

Woraus ich schließe: Lieber Udo, genau das willst du auch noch lange nicht – dich zur Ruhe setzen.

In Dir, in Euch ist eine Resonanz für dies Wilde, Ihr mögt die Stadt, die ein großer Spiegel der Welt und natürlich auch ihrer Probleme und Zerrüttungen ist  – und mich wundert das tatsächlich nicht, - empfinde ich Dich, lieber Udo, doch als jemanden, der auch etwas Unerschrockenes ausstrahlt. Jemand, den ich erst mit knapp 70 kennenlerne, und in dessen Gesicht, Worten und Körperhaltung meine ablesen zu können, dass er durch manche Feuer im Leben gegangen ist, um das zu werden: unerschrocken nach vorne gehend.

An dieser Stelle möchte ich Hermann Hesse zitieren:

„Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten

An keinem wie an einer Heimat hängen./

Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,/

Er will uns Stuf` um Stufe heben, weiten.

Kaum ist man heimisch einem Lebenskreise/

und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen./

Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise/

mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.“ (aus: Hesse, „Stufen“)

Berlin also.

Für jemanden, der 1961 11jährig die Grenze von Berlin Ost nach Berlin West überschritt, ahnungslos, unfreiwillig, unwissend: Für Dich war es ein Familienbesuch, was passierte, war eine Auswanderung.

Gibt es vielleicht einen Zusammenhang zwischen dem alten und dem neuen Berliner Udo Baer? Zeigt sich in diesem Zurückgehen an einen Ort großer Verstörung vielleicht auch die erworbene, die eroberte Beweglichkeit im Herzen; eine Beweglichkeit, die so einen Neuanfang mit über 60 möglich macht? Beweglichkeit möglicherweise als positive Kehrseite dessen, was Du Dir als Flüchtling erarbeiten musstest?

Anders als Udo zwar nicht selbst in Flüchtlingslagern gewesen, aber als Kind von zwei Flüchtlingen bin ich eine ganze Kindheit hindurch rastlos mit Eltern von hier nach dort umgezogen, und der einzige Ort, der blieb, waren die erzählten Heimaten der Eltern in Ostpreußen und in Danzig.

Ich hege schon lange die Vermutung, dass es einen Zusammenhang geben könnte zwischen diesen Fluchten und also den erzwungenen Aufbrüchen als Kind, - und der Bereitschaft und Fähigkeit, als erwachsener und sogar als älterer Mensch NOCHmal aufzubrechen. Nicht leidensvoll, sondern freudig  --

Aus dem, was einmal schlimm und leidvoll, ja, sogar traumatisch war, kann – wenn man damit gearbeitet hat, - eine besondere Fähigkeit, ein Vermögen werden.

Und diese Fähigkeit, lieber Udo, - sie scheint mir sozusagen im Herzen Deines geistigen Werks zu liegen: die Fähigkeit, Tränen einerseits als genau das zu sehen und zu nehmen, was sie sind: Tränen nämlich, - und zugleich als gewaltige Aufgabe, den Lernweg auf sich zu nehmen, den diese Tränen weisen; mitten durch das Tal der Tränen und dann den Berg hoch, - und irgendwann auf diesem weiten Weg auch Perlen in der Hand zu haben.

Tränen können zu Perlen werden, - auch wenn man, wie ich finde, vorsichtig und nicht leichtfertig sein darf mit diesem märchenhaften Bild von den Tränen, die zu Perlen werden. Erstmal entstammen Tränen einem Land, das niemand freiwillig wählen würde. Dann aber schlummert dort auch die Möglichkeit einer Kompetenz, eines Wissens.

Würdigen, was ist“ – dieser wunderschöne, prägnante Satz von Dir, von Euch weist diesen Weg.

*Ich bin dann ja wenige Tage nach unserem ersten Kennenlernen mit knallvollen Fahrradtaschen übers Tempelhofer Feld zurückgeradelt – zehn Bücher von Dir, von Euch darin.

Was erzählt mir als Außenstehender Euer Werk? Ich habe mich heran- und hineingelesen und will hier nun einigen Lieblingsgedanken und Sätzen nachgehen.

„Ins Leere gehen“. Mit diesem Satz kenn ich sehr viel anfangen, - vielleicht weil ich das Gefühl habe, dass er direkt an die extremen Erfahrungen wie Krieg und Flucht anschließt, - aber auch generell an traumatische Erfahrung, die daherkommt als eine unerwartete Attacke, mit der man nachher allein ist.

Die Leere danach, das ins Leere gehen als etwas, das so schrecklich ist, weil es ja auf eine Über-FÜLLE trifft: der Mensch ist ja ÜBER-voll mit Schock und Fassungslosigkeit; eigentlich stauen sich Gefühle, Gedanken, - und dieser Überfülle würde eine sehr große Hand entsprechen, die das entgegennehmen könnte, - würdigen, was ist sozusagen.

Aber klassischerweise passiert gerade nach Traumata oft das Gegenteil: Verstörung, Überforderung, - auch Dinge wie Scham, wie Anpassung an gesellschaftliche Standards halten Menschen davon ab, - AUCH Eltern – sich dem zuzuwenden, was der Mensch neben ihnen, das Kind neben ihnen, alles zu sagen, zu weinen, AUSZUDRÜCKEN hätte.

Wie ein übervoll beladenes Auto, das eigentlich eine SEHR stabile Brücke bräuchte, wenn es über einen Abgrund fahren will, - wo aber unter Umständen GAR keine Brücke ist, - und das Auto stürzt ab, - ins Leere.

Lieber Udo, ich meine, in Deinen, in Euren Büchern „Flucht und Trauma, Kriegserbe in der Seele, und auch im neuen Buch „Was hochbelastete Kinder brauchen“ zwischen den Zeilen auch den Jungen zu lesen, der 11jährig, kurz vor Mauerbau, in Berlin über die Grenze ging, hinter sich die DDR, vor sich ein neues Land, mit nichts im Gepäck, was für ihn wichtig gewesen wäre, stattdessen mit der Heimlichkeit der als „Besuch im Westen“ getarnten Flucht auch getäuscht. Ihr Kinder wusstet nichts von der Fluchtabsicht, - und so war nicht einmal Dein Lieblingsbuch dabei.

Ich selbst versuche mir das schon lange immer wieder vorzustellen, - wenn ich auf meine Möbel schaue, die ich auf dem Flohmarkt gekauft, und von Ort zu Ort mitschleppe, die vielen kleinen persönlichen Schätze, - ein Ring, ein Brief, ein zerlesenes Buch, - Dinge, die man nie entbehren wollen würde, - weil ich immer wieder versuche, mir vorzustellen, was meinen Eltern und Großeltern passiert ist. Und ich denke, dass für Kinder die Machtlosigkeit noch krasser ist, - und dass sie sich in einem Fall wie Deinem noch von den eigenen Eltern irgendwie verraten fühlen, - umso mehr, wenn man auch NACHher nicht über all das spricht, das AUFfängt, was an Verstörung in den Kindern ist, - dass dann dies Alleinsein auch mit den eigenen Eltern eine große Einsamkeit schafft.

Wo GENAU Du da bist, lieber Udo, ist nur zwischen den Zeilen zu ahnen, - aber die Empathie und die Zielsicherheit, mit der du gerade DIES Thema der Flucht in mehreren Büchern nachfühlst, verrät, WIE tief du darin enthalten bist. Dass Du, - zusammen mit Gabriele – dann seit 2008 ganz bewusst entschieden hast, diese Empathie, dies WISSEN, dass Du als geflüchtetes Kind hast, auch nutzbar zu machen für die Flüchtlinge von heute und von morgen, das beeindruckt mich sehr. Wie leicht kann es passieren, dass man mit der eigenen traumatischen Erfahrung steckenbleibt, - und dass man, selbst wenn man sie bearbeitet, bei sich selbst stehenbleibt. NICHT weitergibt. NICHT von sich selbst absieht. Du hast aber, - vielleicht ja schon ganz früh in der Sozialarbeit, - entschieden, in die solidarische Nähe zu denen zu gehen, die du sehr gut verstehst, - Du kannst dir genau vorstellen, warum sie manchmal schreien oder ausflippen, - und noch genauer kannst Du verstehen, warum sie NICHT ausflippen, sondern verweigern und verstummen, - denn eigentlich sind sie ja, ich zitiere, „so voll, dass nichts Neues hineinpasst“.

Zunächst mal muss ganz viel HERAUS, bevor wieder neuer Stoff HINEIN kann. Womit ich bei eurer kreativen Arbeit bin, - Malen, Tanzen, Spielen als Möglichkeiten des Ausdrucks, - und als große Entscheidung dahinter das „Würdigen, was ist.“

Denn was passiert, wenn diese Würdigung von traumatischem Erleben NICHT stattfindet? Wenn man ins Leere gefallen IST? Ich zitiere noch einmal: „Das, was sie damals gebraucht hätten, suchen sie ein Leben lang.“

Es muss schon andere, sehr günstige Umstände, es muss glückliche Zufälle, es muss vor allem eine unglaubliche Entschlossenheit geben, sich selbst an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, um es zu „schaffen“, - um nicht abzusaufen in dem  Sumpf, der vor einem gähnt, der „Depression“ heißen könnte oder Sucht, Essstörung, irgendeine Variante des sog. „dysfunktionalen“ Lebens, des grundlegend in seinen Möglichkeiten gehemmten Lebens. Jeder, der so einen Weg gegangen ist, weiß, WIE weit und wie steinig ein solcher Weg ist. Und wie leicht immer mal wieder die Gefahr droht, sich selbst verloren zu gehen. Und man weiß, dass man es allein gar nicht schaffen könnte.

An dieser Stelle hat ein sehr befreiender Gedanke Platz: Genauso, wie für ein Trauma Zeit keine Rolle spielt, - wie man noch 50 Jahre danach plötzlich mitten im Krieg, mitten im einer Gewalterfahrung stehen kann, - genauso wenig spielt auch für den richtigen Trost Zeit keine Rolle. Für die richtige Antwort auf ein Trauma ist es nie zu spät.

Mir kam beim weiter darüber Nachdenken ein Lieblingssatz in den Sinn, der für mich ganz gut benennt, was man für seine Identität auf so einem Weg gewinnen kann: Glück sei, sagt Walter Benjamin, „ohne Schrecken seiner selbst inne werden können“.

Das hat jemand gesagt, der die Flucht vor den Nazis NICHT überlebt hat. Benjamin muss bei seiner Flucht über die Pyrenäen an so einem Punkt der Verzweiflung gewesen sein, dass er sich umgebracht hat, bevor er umgebracht wurde. Aber vorher hat er ein großes Werk geschaffen und irgendwo in diesem Werk kommt auch dieser Satz vor, der für mich etwas beschreibt, was ganz selbstverständlich erscheint, aber es natürlich nicht IST: „seiner selbst INNE werden können“, - das bedeutet Selbstbegegnung, sich nah sein, sogar eins sein mit sich. Und dies OHNE SCHRECKEN tun können – das ist vielleicht schon das Glück.

Lieber Udo, mir kommt es so vor, als könnte man Dein, Euer therapeutisches und theoretisches Werk auch anschauen, als wäre es gleichsam darum herumgebaut, - das eigentlich selbstverständlich sein sollte, aber es natürlich überhaupt nicht ist: dass Menschen so weit zu sich kommen, dass sie bei sich ankommen können; dass sie gern bei sich selbst sind, dass sie deshalb anderen nichts antun müssen, sondern auch gut für andere sind.

Und immer wieder geht es dabei eben um die Kinder, - alles geht zurück zur Kindheit, wie man ja irgendwie auch selbst weiß. Davon sind ja auch nicht nur Deine Bücher, lieber Udo, sondern fast alle therapeutischen Bücher voll. Was mir an Deinen auffällt, ist, dass die – für mich – wundervollen Sätze, - die Sätze, die bei mir selbst Erkenntnisse auslösen und sich weiterschreiben im eigenen Innern – dass die oft wie versteckt, ganz unauffällig dazwischen stehen, nicht als große Thesen, sondern als kleine Fundstücke. Ein solcher Satz ist für mich in dem neuen Buch „Was hochbelastete Kinder brauchen“:

„Wenn Kinder weglaufen, dann wollen sie, dass wir nach ihnen suchen.“

Für mich lässt dieser Satz einerseits Situationen aus meiner Kindheit, aber vor allem auch der Kindheit meiner Tochter hochkommen: Wie anstrengend kann das für Eltern sein, kleine und auch größere Kinder, die weglaufen …  Aber natürlich steckt etwas Großes dahinter: sieh mich, schau nach mir, pass auf mich auf! Lauf hinterher, wenn es sein muss.

Das muss man, glaube ich, tatsächlich für seine Kinder tun. Und man müsste auch das ganze irre Gerede über Machtspiele, das man so gern auf Kinder anwendet, auf die unzähligen Erwachsenen anwenden, die in der Arbeit, in der Politik, im Alltag böse Machtspiele versuchen, - denn wenn man sich dort nicht traut, dem etwas entgegenzusetzen, dann wird es traditionell an Kindern ausgelassen. Das Kind, das wegläuft, das schreit, das fordert, ist dann der Tropfen, der ein übervolles Fass an Stress und Belastung zum Überlaufen bringt.

Da helfen so wunderbar glasklare Sätze wie dieser: „Wenn Kinder weglaufen, wollen sie, dass man nach ihnen sucht.“  Denn der Satz beinhaltet in meinen Augen auch die großen, die gravierenden Entfernungen der Kinder: wenn sie nach innen abhauen, nichts mehr von sich geben; wenn sie in eine Symptomatik fliehen, wenn wir Eltern ihnen scheinbar egal sind. Wenn sie sich in Gefahren begeben, die sie nicht absehen können: immer dann hilft dieser Satz: Sie wollen, dass wir nach ihnen suchen.

Dein Gedanke, lieber Udo, geht an dieser Stelle weiter: Wie geht es mit diesem Weglaufen dem – möglicherweise ja sogar unterstützenden, hilfreichen  Erwachsenen?

Da hilft dann die „UND-Haltung“, die auch so eine große Rolle in Eurem Werk spielt. Ich kann auch einem Kind sagen: „Ich verstehe, dass du weg willst. UND ich will das nicht.“ Weil – ich mir Sorgen mache. Das „und“ verbindet hier zwei ja nur scheinbar widersprüchliche Dinge, - es sind zwei Aspekte, die zur ECHTEN Fürsorge für einen jüngeren Menschen dazugehören. Ihnen sowohl das Sehen und Verstehenwollen entgegenzubringen als auch eine Klarheit im Schützen.

Und nicht zuletzt braucht man diese freundliche Haltung des UND ja auch sich selbst gegenüber: „Ich will dich verstehen – UND ich bin erstmal überfordert.“ „Ich habe einen Fehler gemacht- UND ich möchte den nächsten Fehler jetzt aber nicht auch noch machen.“

Ich musste an etwas Eigenes denken, - ich kam vor vier Jahren mit meiner  14jährigen Tochter aus einer süddeutschen Kleinstadt nach Berlin, - und erlebte gleich anfangs eine Streitsituation, während der sie in der U-Bahn aufstand und verschwand.. Natürlich war ich zunächst in Panik. Würde sie sich zurechtfinden? Und würde das jetzt die ganzen nächsten Jahre so sein, dass sie nächtelang durch die Stadt treiben und mich im Unklaren darüber lassen würde, wo sie wäre?

Natürlich hat sie sich bestens zurechtgefunden. Und ich habe aus Erfahrungen wie dieser gelernt, dass ich mit dem kommenden abendlich-nächtlichen Unterwegssein klug umgehen sollte. Keine Prinzipien errichten, keine feste Zeiten für die 14, 15, 16jährige. Das hätte ihren Trotz und meinen permanenten Ärger über kleine und große Verspätungen geradezu heraufbeschworen. Ich fand eine Lösung, die für sie auch Sinn ergab, - weil sie verstand, dass ich nicht voller Sorgen im Bett liegen wollte. Und interessant war, dass sie mir irgendwann in diesen Jahren sagte: DOCH, es ist mir wichtig, dass du wissen willst, dass ich sicher bin. Das beschützt mich auch.

Lieber Udo, ich erkenne in Deinem Werk etwas, das ich Menschenliebe nennen würde. Ein an menschlicher Nähe ausgerichtetes Denken, etwas grundlegend Versöhnliches, das aber ganz und gar nicht gleichbedeutend ist mit einer Idealisierung von Versöhnung, - DAS ist mir nicht nur ein wichtiger Gedanke, sondern einer, der für mein persönliches Vertrauen in Euer Denken entscheidend war.

Dass es NICHT um Beschwichtigung, NICHT darum gehen kann, irgendein Leid kleiner zu machen oder zu ignorieren um einer ersehnten Harmonie oder Versöhnung willen.

Das Maß aller Dinge, so sagt Ihr es klar, bleibt die Würde jeder und jedes Einzelnen: die Würde, die man in unzähligen Würdeprozessen in sich selbst aufrichtet und DADURCH andere auch bei der Aufrichtung unterstützt.

Dazu noch eine kurze eigene Geschichte, die ich in meinem Buch „Die kleinste Familie der Welt“ erzählt habe, weil es für mich eine sehr wesentliche Lerngeschichte zum Thema Würde war: Meine Tochter war vielleicht elf Jahre alt, wir hatten es eilig, zusammen zu einem Fest ihrer Pfadfinder zu gehen, ihre Jeans war beim Waschen enger geworden und sie bat mich, ihr hineinzuhelfen. Aber währenddessen wurde sie ungeduldig und sie stieß mich mit Ellbogen weg, - irgendeine Empörung schoss bei mir hoch und ich schlug ihr richtig fest auf den Arm. Wir beide erschraken total – stoben auseinander, jede in ihr Zimmer. Wo mir ziemlich schnell klar wurde, was bei mir passiert war – und dass es an MIR war, jetzt zu handeln. Ich klopfte, sie saß ganz klein und zusammengesunken in der Ecke, und ich sagte ihr, „hör zu, das war Gewalt von meiner Seite und tut mir total leid. Bei mir ist was Altes hochgekommen, das NICHTS mit dir zu tun hat.“ Was ich nie vergessen werde, war, wie sie ihren Körper wieder „einsammelte“, während sie mir zuhörte, wie ich von Wort zu Wort zusehen konnte, wie ihre Kraft zurückkam, wie sie sich aufrichtete, wieder „da“ war. Weil ICH es auf mich genommen hatte, was mein Fehler war, - uneingeschränkt. Ein auf sich nehmen, das alternativlos ist.. „Ich hab gedacht, ich wär schuld“, sagte sie, und ich sagte: „Natürlich war das nicht schön, dass du so ungeduldig geworden bist. Aber meine Reaktion war völlig überzogen.“

Würdigen was ist.

Warum erzähle ich das?

Weil mir erst im Schreiben und Erdenken dieses Textes klar wurde, dass ich ja gar kein „Neuling“ in der Kreativen Leibtherapie bin … genau genommen bin ich nicht seit sechs Monaten, sondern seit elf Jahren mit der Kreativen Leibtherapie vertraut. Vor elf Jahren habe ich Gabi Lorenz am Bodensee kennengelernt, - und was sie in diesen elf Jahren, in denen wir uns in ganz unregelmäßigen Abständen gesehen haben, zuletzt nur zwei, drei Mal im Jahr, in der Arbeit mit mir in Gang gebracht, beschützt und ermutigt hat, ist mein persönlicher „Qualitätsausweis“, was die Kreative Leibtherapie betrifft …. Was ich darüber weiß, weiß ich mit Leib und Seele, mit Hand und Fuß.

Plötzlich war – anders als in anderen Therapieerfahrungen – nicht mehr die Rede von therapeutischer Abstinenz; von der strengen Trennung von Therapie und Freundschaft. Natürlich stand etwas anderes vorne dran als die Freundschaft, - aber zugleich musste die auch nicht draußen vor der Tür bleiben, sondern war immer mit im Raum. Ein Wort, das schon lange bei mir ist im Blick auf diese Begleitung, ist das von der unbedingten Solidarität, - da glaubt jemand an mich, und dieser Glauben ist tiefer als irgendein therapeutischer Glaubenssatz; dieser Mensch, diese Frau, weiß soviel von mir, und deshalb – nicht trotzdem – ist sie für mich da, wenn ich sie darum frage.

Ich würde es inzwischen weniger Therapie als viel mehr Lebensbegleitung nennen.

Und Gabi war es, die immer wieder darauf gedrängt hat, dass wir drei Neu-Berliner uns kennenlernen, - und so schließt sich nun hier ein Kreis.

Am Schluss kehre ich noch einmal zurück zur Erfahrung dieses Sommers, wenn ich an verschiedenen Orten – auf Radtouren in Brandenburg, auf Zugfahrten durch Deutschland, an Schwimmausflügen an den Schlachtensee – unterwegs war und Eure Bücher mit mir.

Es war ein Morgen im Frühsommer. Ich war auf Radtour in Brandenburg unterwegs, die alte Schulfreundin schon abgereist, ich verbrachte einen Morgen in einem Café an der Havel – in Gesellschaft des Buches „Deine Würde entscheidet“.

Ich unterstrich viel – setzte Ausrufezeichen an Gedanken wie, dass es auch eine  ENTSCHEIDUNG für das eigene Würde-Ich braucht, … dass es zahlreiche Feinde des Würde-Ichs gibt, vor denen man sich gut schützen lernen muss, - das „ich gehe über alles hinweg“ zum Beispiel. Dass das meiste mir bekannt vorkam, darüber war ich eigentlich froh – spiegelte es mir ja, dass ich schon eine Weile auf meinem eigenen Würde-Weg unterwegs war. Neu waren aber auch bestimmte Fragestellungen: Sind die Menschen, die mein Würde-Ich respektieren und fördern, auch die, mit denen man am meisten Zeit verbringt?

Aber erst als ich weiterradelte, um den Plauer See, stellte sich die „echte“ Wirkung des Buches ein: es verknüpfte sich mit dem Problem, an dem ich seit Monaten herumkaute, - eine sehr langjährige, sehr wichtige Freundschaft, die in eine Krise geraten war – die gar nicht aus der Krise heraus wollte. Trotz? Schuldgefühle? Viel Grübeln.

Und plötzlich auf dem Rad wurde mir klar, dass die Würde-Dimension ein Schlüsselthema in diesem Konflikt war. Das Besondere des Buches und seiner Gedankenwelt erschloss sich mir NICHT beim Lesen – sondern in der ANWENDUNG. Und diese Anwendung passierte ganz von selbst, - das geschah sozusagen. Das, was ich gelesen hatte, „wandte sich von selbst an“, - in mir. Es schrieb sich ein in meinen Lebenstext.

Erst vor ein paar Wochen erlebte ich etwas Ähnliches noch einmal.

Ich arbeitete an diesem Vortrag; ich war noch nicht wieder gesund, stimmlos, alles ging ganz langsam; ich hatte Frühstücksbesuch, ein Arbeitstreffen, und mittendrin aus Sizilien die Anfrage meiner Tochter, ob ich sie anrufen könne. Ich musste sie schieben, - und später war dann sie nicht mehr erreichbar. Am selben Tag war schon etwas anderes Kritisches passiert, - und plötzlich fiel ich in ein „Ausgesetztsein der eigenen Sehnsucht“. Erneut halfen mir diese Gedanken aus den Büchern: Ich muss es im Leib spüren, - es ist gut, auch die Sehnsucht im Leib zu spüren, um überhaupt herauszufinden, um was es geht in diesem von Gefühlen und Bedürftigkeiten geflutet werden – und dies als REICHTtum zu sehen, - die „Heimlichen Wünsche und die unheimlichen Sehnsüchte“ – all das, was keineswegs kleingemacht werden will, sondern ganz im Gegenteil, - gewürdigt, angeschaut auf die Frage: Was will gelebt werden? Was MUSS gelebt werden?

Die Bücher zu lesen hat mir ganz persönlich und privat gut getan, - sie wandten sich von selbst auf mein Leben an.

Es war später, dass mir Gabriele im Gespräch den Satz sagte: „Wir sind Pragmatiker“ – übersetzt: im Leben erwachen die Bücher zum Leben.

Und dem Leben sind sie abgeschrieben.

Zum Abschluss ein Gedicht:

Gefühle sind Gäste in deinem Herzen.

Keines will sich einnisten auf ewig,

jedes aber will Raum haben zu seiner Zeit.

Weich werden können.

Bereit sein für Schwester Sehnsucht

Für Bruder Angst und Bruder Eifersucht

Freund Einsamkeit

Gefährtin Traurigkeit und Gefährtin Zorn.

Sie alle verlassen dich wieder,

wie der Wind das Meer verlässt,

nachdem er es aufgepeitscht hat,

und alle lassen dich reicher zurück,

wenn sie Platz haben konnten in dir.

Alle sind freund und nicht feind,

wenn du sie willkommen heißt.

Wärme

heißt ihre Botschaft,

Durchlässigkeit, Leben. 

(Bernadette Conrad)

Lieber Udo, - es ist und war mir eine große Ehre, hier stehen und ein Werk wie Deines würdigen zu dürfen.

Alles Gute zum Geburtstag!

Eine lachende Frau mit Kurzhaarfrisur, die sich die Hand ans Gesicht hält. Sie trägt Ohrringe, eine zarte Halskette und ein schwarzes Oberteil mit weißen Punkten.

Verfasst und gehalten am 12.10.2019 in Duisburg von Bernadette Conrad, Journalistin und Schriftstellerin.

Im Jahr 2023 erschien ihr Roman: Was dich spaltet.

Bernadette Conrad erzählt darin in ihrer einzigartigen Sprache, einfühlsam und genau im Sinne von treffend, die Geschichte einer Familie und dem Verschwiegenen über 4 Generationen hinweg.

“Lieber Udo, ich erkenne in Deinem Werk etwas, das ich Menschenliebe nennen würde”.

– Bernadette Conrad