Oft mündet die Gefühllosigkeit in offene Gewalt, manchmal schafft sie eine Beziehungsatmosphäre, die von anderen als gewalttätig empfunden wird:
Beim Einzug einer alten Frau ins Pflegeheim sind der begleitenden Schwiegertochter sowohl die Anstrengungen als auch die Erleichterung förmlich ins Gesicht geschrieben.
Sie sei „mit den Nerven am Ende“ und halte das ständige Tyrannisieren nun nicht mehr aus. „So geht das schon mein ganzes Leben. Vom ersten Tag unseres Kennenlernens hat meine Schwiegermutter mich schikaniert. Nichts, aber auch rein gar nichts konnte ich ihr recht machen. Verzeihen Sie, aber ich habe sie heimlich immer “alte Hexe” genannt. Jetzt sieht es auch mein Mann ein: Sie hat unsere Ehe immer belastet. Ich kann nicht mehr … wir müssen Mutter abgeben.“ Und sie erzählt, dass sie nie ein Wort der Anerkennung erhalten hat. “Selbst als ich selber krank war, wurde ich herumkommandiert. Ich war ihr völlig egal.” Und dann, mit leiser Stimme und der Pflegerin zugewandt: “Passen Sie auf! Die ist nämlich böse!”
Auch wenn diese Schwiegertochter keine offenen Gewalterfahrungen wie Schläge erleben musste, war die Erfahrung der Gefühllosigkeit der alten Frau und damit der gefühllosen Beziehung für sie eine Gewalterfahrung. Sie konnte auf Dauer eine solche Erfahrung nicht aushalten, in ihr ging “etwas kaputt”.
Für viele alte Menschen, wie vielleicht auch für diese Schwiegermutter, sind Prügel und andere Gewalterfahrungen in Kindheit und Jugend sowie schlimme Kriegserfahrungen Gründe, die sie in die Rohheit getrieben haben. Kein Mensch, so unsere Überzeugung, wird verroht geboren, Menschen werden in die Verrohung getrieben. Doch schlimme Erfahrungen können erklären, aber nicht entschuldigen.
Udo Baer, Gabriele Frick-Baer, Gitta Alandt: Wenn alte Menschen aggressiv werden Rat für Pflegende und Angehörige, BELTZ Verlag, ISBN: 978-3-407-85986-0
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